Sie leiden unter: Kopfschmerzen, Rückenschmerzen oder Tinnitus?

Dr. Tamara & Mirko van den Bruck führen eine der modernsten kieferorthopädischen Praxen am Niederrhein und gleichzeitig eine der innovativsten. Wir haben mit beiden über Kieferfunktionsstörungen und deren komplexe Auswirkungen gesprochen.

Was haben Kopfschmerzen, Rückenschmerzen oder Tinnitus mit Kieferorthopädie zu tun?

M. van den Bruck: In unserem Körper stehen Muskeln, Knochen, Gelenke und Nerven in einem komplexen Zusammenhang. Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Wer stundenlang im Büro oder Home Office am PC oder Tablet sitzt, kennt die häufig zunehmenden Nackenverspannungen und später unangenehmen Nackenschmerzen. Auch Schulterverspannungen und Rückenschmerzen sind nicht selten. Denn der menschliche Körper ist NICHT dafür konzipiert, fast regungslos vor dem Bildschirm zu sitzen. Es fehlt im Alltag meist die ausgleichende Bewegung. In Folge dessen nimmt unsere Muskelmasse ab, welche die Fehlhaltungen kompensieren könnte. Wirbelköper und Gelenke werden zunehmend überlastet. Nerven können eingeklemmt oder gereizt werden. Als Schutzreaktion verspannen Muskeln, um die betroffenen Strukturen zu stützen. Diese Verspannungen sind dann häufig ein „schmerzhafter Teufelskreis“, aus welchem unser Körper ohne „externe Hilfe“ nicht mehr herausfindet.

Aber unser Körper ist noch viel komplexer! Schauen wir uns einmal den Schädel an: Hier befindet sich die stärkste Muskulatur des Körpers, unsere Kaumuskulatur. 80 bis 100 kg Beißkraft schaffen wir hiermit durchschnittlich. Und wenn jetzt genau hier – zwischen unserem Oberkiefer und Unterkiefer – etwas nicht stimmt, dann hat dies fatale und komplexe Folgen. Genau hier kommen Fachzahnärzte, wie beispielsweise wir Kieferorthopäden, als kompetente Ansprechpartner ins Spiel.

Welche Fehlfunktionen gibt es denn und wie können diese z.B. Rückenschmerzen auslösen?

Dr. T. van den Bruck: Kennen Sie das Sprichwort „Zähneknirschend habe ich das hingenommen“? Seit Jahrhunderten ist bekannt, dass wir unseren Stress auch über Aktivität unserer Kaumuskulatur verarbeiten. Auch Eltern kennen das Phänomen, dass Kinder nachts hin und wieder kräftig und extrem laut mit den Zähnen knirschen. Das ist ein normales, psychisches Ventil. Auch Zahn- und Kieferfehlstellungen können dieses Knirschen zusätzlich auslösen: Jeder auch nur leicht gedrehte Zahn kann falsch auf seinen gegenüberliegenden Partner treffen und die Kaukräfte in eine falsche Richtung ablenken. Der Körper versucht nun diesen störenden Kontakt weg zu knirschen. Die hieraus entstehende Hyperaktivität kann „Muskelkater“ vom Kiefer bis in die Schläfenregion auslösen, wodurch wiederum Kopfschmerzen und Tinnitus entstehen können. Natürlich sind die Zusammenhänge noch deutlich komplexer. Sie können sich bestimmt vorstellen, wie „gestresst“ der Körper sein muss, wenn beispielsweise der gesamte Unterkiefer zu kurz ist und dementsprechend kein einziger Zahn korrekt zum Oberkiefer steht. Hier besteht dringender Behandlungsbedarf, auch wenn noch keine Beschwerden vorhanden sind. Viele Europäer haben einen zu kurzen Unterkiefer, welcher ohne kieferorthopädische Behandlung zu erhöhtem Verschleiß der Kiefergelenke führen kann.

Betrachten wir den gesamten Körper: Wenn also eine Rücklage des Unterkiefers über Jahrzehnte die Kiefergelenke verschleißen kann, was kann dann bei einem schief wachsenden Kiefer passieren? Natürlich noch viel mehr! Der Kreuzbiss ist der Fachausdruck für einen massiv schief wachsenden Kiefer, welcher meist mit einer stark verschobenen Mittellinie der Schneidezähne einhergeht. Natürlich entwickelt sich hierbei auch die Muskulatur massiv asymmetrisch. Und wenn wir uns jetzt die 80 bis 100 kg Beißkraft asymmetrisch vorstellen, drückt diese massiv asymmetrisch auf den Schädel. Es gibt Patienten, die hierdurch Gesichtsasymmetrien entwickelt haben. Der gesamte Schädel-Knochen ist entsprechend schief gewachsen. Und da unser Kopf zwischen den Schultern, auf der Wirbelsäule und über dem Rücken sitzt, sind all diese benachbarten Strukturen häufig ebenfalls betroffen: Die Schultern durch Verspannung und der Rücken beispielsweise durch eine Skoliose (Wirbelsäulenverkrümmung). Zahn- & Kieferfehlstellungen können also erheblichen Einfluss auf die Lebensqualität haben. Schmerzen, Zähneknirschen oder Verspannungen am Kopf wirken sich nicht selten auf den ganzen Körper aus, auf den Nacken, die Wirbelsäule bis zum Becken. Manchmal reicht ein fehlender Zahn oder ein falscher Biss, um eine Kettenreaktion in Gang zu setzen. Tückisch sind solche Störungen, weil sie sich oft erst nach Jahren bemerkbar machen. Knirschen oder Pressen der Zähne, Knacken im Kiefergelenk, Schmerzen in der Kaumuskulatur, Kopfschmerzen, Schwindel oder Muskelverspannungen in Hals oder Nacken können auf eine Craniomandibuläre Dysfunktion hinweisen (CMD), der Oberbegriff für Störungen im Kau-Kiefer-Hals-Bereich.

Welche Therapiemöglichkeiten gibt es?

M. van den Bruck: Je nach Befund kann bereits eine individuell angefertigte Kiefergelenks-Schiene helfen oder eine Korrektur der Zahn- oder Kieferfehlstellung sinnvoll sein. Ideal ist natürlich die rechtzeitige Therapie während der Wachstumsphase bei Jugendlichen, da hier auch das Knochenwachstum in die perfekte Position gefördert werden kann. Aber auch bei Erwachsenen gibt es unauffällige Möglichkeiten, sogar komplexe Fehlstellungen mit fast unsichtbaren Schienen zu korrigieren. Wichtig für den Behandlungserfolg sind ggf. auch begleitende physiotherapeutische Maßnahmen. Funktionell verursachte Kopf-, Kiefer- und Gesichtsschmerzen erfordern oft eine Zusammenarbeit mit Ärzten anderer Fachrichtungen.

Kieferfunktionsstörung (CMD)
Ausgabe April 2021